Biermann-Ratjen-Medaille: Eine hohe Auszeichnung – aber wie echt ist der Glanz? - WELT (2024)

Die erste Frage, die der Hamburger Notar Dr. jur. Hans Harder Biermann-Ratjen wie so viele andere Deutsche auf dem Fragebogen der britischen Besatzungsmacht beantworten musste, lautete schlicht: „Waren Sie jemals ein Mitglied der NSDAP? Ja. Nein. / Have you ever been a member oft the NSDAP? Yes. No.“ – der damals 44-Jährige nahm sich am 18. Mai 1945 den Katalog vor, zwei Wochen nach dem Einmarsch der britischen Truppen. Die Alliierten hatten die Absicht, „alle nazistischen und militärischen Einflüsse aus öffentlichen Einrichtungen, dem Kultur- und Wirtschaftsleben des deutschen Volkes zu entfernen“. Aus diesem Grund mussten – unter anderem – alle Rechtsanwälte und Notare jetzt ausdrücklich beantragen, ihre Tätigkeit fortsetzen zu dürfen.

Das zentrale Instrument der politischen Säuberung war zunächst dieser Fragebogen, den die Besatzungsmächte jetzt millionenfach ausgaben. Biermann-Ratjen zwängte das vierseitige Formular in eine Schreibmaschine. Unter und neben die Frage nach der Parteimitgliedschaft tippte er quer über die Seite: „Ja. Eintrittsantrag vom 30. 12. 37 auf Veranlassung des Hamburger Justizsenators. Kein Mitgliedsbuch empfangen, blieb daher Anwärter, keinerlei Betätigung in der Partei.“

Ob er jemals „aus dem öffentlichen Dienst, einer Lehrtätigkeit oder einem kirchlichen Amt entlassen“ worden sei, lautete eine weitere Frage. Auf einem Extrablatt führte er aus, er sei 1936 als Vorsitzender des Kunstvereins in Hamburg entfernt worden, wie auch der gesamte Vorstand. Tatsächlich hatte der Kunstverein eine Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Künstlerbund präsentiert, das wiederum das NS-Regime schon länger beobachtete. Die Folge: Der Künstlerbund wurde verboten, der Kunstverein in Hamburg vollends gleichgeschaltet. Auf einem zweiten Fragebogen, zu seinem beruflichen Werdegang, ergänzte Biermann-Ratjen: „Betätigung in Kunst- und Kulturfragen, schöngeistige schriftstellerische Tätigkeit“. Am Schluss des Hauptfragebogens wiederum brachte er vor, eine „gleichbleibende und konsequente Ablehnung des Nationalsozialismus“ an den Tag gelegt zu haben sowie eine „Hilfstätigkeit zugunsten zahlreicher vom System Verfolgter“.

Der Status eines bloßen „Anwärters“ der Partei, den Biermann-Ratjen hier für sich beanspruchte, war 1937 eingeführt worden – als erste Lockerung der Mitgliederaufnahmesperre, die die NSDAP 1933 verhängt hatte. Anwärter hatten mehr Pflichten als Rechte, aber die Aussicht, über kurz oder lang die rote Mitgliedskarte zu erhalten, pauschal rückdatiert auf den 1. Mai 1937. Jahre später, 1943, in einem Aufnahmeantrag für die Reichsschrifttumskammer – Biermann-Ratjen wollte einen Roman veröffentlichen –, hat er dann angegeben, seit 1937 Mitglied der Partei zu sein.

Als der Notar zum Kulturpolitiker wurde

Anwärter oder Mitglied – am 30. Mai 1945 erhielt Biermann-Ratjen seine Wiederzulassung. Kurz darauf fragte Rudolf Petersen, der von den Briten ernannte Bürgermeister der Hansestadt Hamburg, bei ihm an, ob er die Leitung der Kunst- und Kulturangelegenheiten übernehmen wolle, „ohne politische Bindung“, mit der Amtsbezeichnung eines Senators. Am 20. Juni 1945 hielt der Notar eine schlichte Ernennungsurkunde in den Händen. Das Hamburger Nachrichtenblatt der Militärregierung druckte am 9. Juli seinen Rundfunk-Vortrag „Ist Kunst heute notwendig?“ ab.

Im November 1945 wurden vier Parteien in Hamburg zugelassen: SPD und KPD, die PFD (später FDP) und die CDP (später CDU); in Planung befand sich eine Bürgerschaft, die Anfang 1946 ernannt werden sollte. Rudolf Petersen musste den Senat, den er im Mai/Juni zusammengestellt hatte, jetzt umformen. Letzte Senatoren, die schon während der NS-Zeit amtiert hatten, verschwanden daraus, die Zahl der Parteienvertreter wuchs an. Die Besatzer veranlassten Petersen ebenfalls, Biermann-Ratjen zum Rücktritt zu bewegen: Dessen Biografie enthalte zwar nichts, was eine Entlassung erfordere, hieß es intern, aber er könne auch nicht als „überzeugter Antinazi“ gelten. Ein möglicherweise absichtsvolles Missverständnis lag dem zugrunde: War als Kunstvereins-Vorsitzender 1935/36 nicht allein in Frage gekommen, wer mit dem NS-Regime übereinstimmte?

Es folgten für Biermann-Ratjen Monate unermüdlicher Korrespondenz mit britischen und deutschen Behörden sowie mit Personen, die ihm bescheinigen könnten, dass er sich politisch korrekt verhalten habe. Unumwunden aber sprach Biermann-Ratjen bald gegenüber britischen und deutschen Stellen von seinem „Eintritt in die NSDAP“. Die Direktive Nr. 24 des Alliierten Kontrollrats, vom 12. Januar 1946, befahl, „aus Ämtern und verantwortlichen Stellen“ zu entfernen seien „Nationalsozialisten und Personen, die den Bestrebungen der Alliierten feindlich gegenüberstehen“. Als Nationalsozialisten galten Personen, die der Partei „aktiv und nicht nur nominell angehört“ hätten.

Außerdem ging die Entnazifizierung langsam an deutsche Gremien über. Im Juni 1946 erreichte der Hamburger Zentralausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten Biermann-Ratjens politische Rehabilitierung – im Sinn der Direktive Nr. 24.

Große Verdienste in der Nachkriegszeit

Biermann-Ratjens Engagement in Bürgerschaft und Senat, von 1949 bis 1966, im Rahmen wechselnder Koalitionen, öffentlichkeitswirksam im Kultur-, eher unauffällig im Justizressort, dort eingeschlossen die Untersuchungen zu Richtern und Staatsanwälten, die in der NS-Zeit an rechtswidrigen Todesurteilen mitgewirkt hatten; hinzugenommen Biermann-Ratjens oftmals bewunderte Reden, die erst zum Teil publiziert worden sind – all das auszubreiten, erfordert ungleich mehr Platz als die Erwähnung des Parteibeitritts von 1937, gehört aber in die gegenüberliegende Waagschale der Gerechtigkeit. 1969 verstarb Biermann-Ratjen.

Sieben Jahre später kam dem damaligen Präses der Behörde für Kunst und Kultur, Dieter Biallas, die Idee, eine Auszeichnung für Kulturschaffende ins Leben zu rufen, die der in München seit 1961 verliehenen Medaille „München leuchtet“ ähneln könnte. Nach längerem Brainstorming in seiner Behörde entschied sich Biallas für Biermann-Ratjen als Namensgeber. Routinehalber vergewisserte sich ein Beamter im Staatsarchiv, wie es mit der Vergangenheit des Kandidaten aussehe; dann teilte er dem Präses mit, Biermann-Ratjen sei „wohl Mitglied der NSDAP“ gewesen, „aber nur nominell“. Kurt Sieveking, Bürgermeister von 1953 bis 1957, und Paul Nevermann, Biermann-Ratjens Senatskollege von 1957 bis 1965, bestätigten Biallas in seiner Wahl. 1977 wurde die Medaille vom Senat beschlossen: Biermann-Ratjen sei ein „wesentlicher Anteil am kulturellen Wiederaufbau Hamburgs“ zu danken. „Mit glücklicher Hand“ habe er vor allem „überragende Persönlichkeiten für die Leitung der wichtigen Kulturinstitutionen“ zu gewinnen vermocht. Als erste empfingen 1978 Horst Janssen und Elsbeth Weichmann die Medaille, Boy Gobert, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt und Hans Leip. Seither ist die Auszeichnung fast 120 Mal vergeben worden. Sie gehört noch heute zu den größten Ehren, die der Hamburger Senat zu vergeben hat.

Biermann-Ratjens NSDAP-Mitgliedschaft ist heute so gut wie vergessen. Ein erstes „Hamburgisches Lebensbild“, auf seinen Notarberuf konzentriert (erschienen 2001), hat sie sogar verkannt; eine korrigierte Neuauflage muss her, vor allem dann aber eine ausführliche Biografie.

Brosda lädt die Enkel zum Gespräch

2023 begann die Hamburgische Bürgerschaft mit dem Projekt „Erforschung der NS-Vergangenheit ehemaliger Mitglieder der Hamburgischen Bürgerschaft“. Es folgt der zeithistorischen „Behördenforschung“, die schon seit einiger Zeit betrieben wird und auch die Parlamente längst erreicht hat. Ein Artikel dazu, in der „Hamburger Morgenpost“ vom 4. Februar 2024, warb mit dem Titel um Beachtung: „So viele Nazis saßen wirklich in der Bürgerschaft“. Die eigentliche Arbeit aber ergibt sich bekanntlich erst im Anschluss an solche Erkenntnisse: Wie sind sie ins gesamte Leben und Werk der an dieser Stelle enthüllten Politiker einzuordnen? Wie vor allem war es um Kontinuität und Wandel in den untersuchten Institutionen bestellt?

Im April 2024 wurden einer der beiden Enkel Hans Harder Biermann-Ratjens und seine Enkelin zu einem Gespräch im Rathaus eingeladen. Die Psychologin Jana Lammers und der Rechtsanwalt Johannes Biermann-Ratjen sprachen mit der Bürgerschaftspräsidentin und mit Kultursenator Carsten Brosda (SPD). Die Nachfahren erhielten Einsicht in eine mehrseitige Ausarbeitung zur NSDAP-Mitgliedschaft des Namenspatrons der Biermann-Ratjen-Medaille. Deren Zukunft, so wurde dabei deutlich, steht zur Disposition. Die Überlegungen liegen auf der Hand: Welche Medaillen-Empfänger werden auf den erneuerten Kenntnisstand zu Biermann-Ratjen reagieren, sobald er publik wird? Ist mit demonstrativen Rückgabe-Akten zu rechnen? Auch ist der nächste Laureat schon ins Auge gefasst: Wird jede künftige Medaillenvergabe von einer Diskussion begleitet sein? Der Senat hat 1978 die Medaille beschlossen, und er kann sie beibehalten, ausklingen lassen oder umbenennen.

Jana Lammers und Johannes Biermann-Ratjen wünschen Kultursenator Brosda „eine glückliche Hand“. Im Gespräch mit ihnen wird deutlich, dass wichtiger als die Medaille für sie der Schutz des Lebenswerks ist, das ihr Großvater geschaffen hat.

Helmut Stubbe da Luz lehrt als Privatdozent Neuere und Neueste Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg.

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